Im Mittelalter aus Stein gehauen



"Die gotische Kathedrale ist ein weitgehend aus dem irdischen Dasein
ausgesondertes Gebilde, eine Steigerung der Stiftshütte und des
salomonischen Tempels als Typen der Altzeit in der ecclesia, deren Antityp
der Neuzeit, hinweisend auf das himmlische Jerusalem der Eschatologie,
Ordnungsgesetze des Kosmos übernehmend.
Das anzuschauende opus, entstanden durch die ars des artifex
und magister operis, das zum Überlegen anregen und die pulchritudo,
die Schönheit und Wahrheit, erkennen lassen soll, formt der Liturgie
und der Seele für ihren Aufstieg von der materiellen
zur immateriellen Welt ein angemessenes Gehäuse,
eine Stätte der geistigen Übungen.....

Das Betrachten solcher Gebilde erzeugt ein Gefühl von Übereinstimmung
unseres Innern mit dem Willen, der diese Gebilde entstehen ließ, Schöpfungen
von begnadeten Menschen, die die Grenze zwischen Formen und Stimmung
zerfließen lassen. Entdeckungen, an denen unsere
Seele, unser Gefühl immer teilhat. Großartig Gebautes,
in Stein beständig, für Gott, die Ewigkeit, geschaffen und doch so zerbrechlich,
frei von erdgebundener Schwerkraft, in den Himmel wachsend,
unwirklich und doch sichtbar, ein Erlebnis unerwarteter, unbekannter
und nicht formulierbarer Gefühle, Ahnungen vom Unendlichen,
Übernatürlichen, ein Gefühl, dem Schöpfer dieser Welt,
dem sapiens architectus et artifex mundi, nahe zu sein.....

Dieses göttliche „Geheimnis“ mutet mich an, läßt mich gefühlvoll,
ergeben, beflügelt, dankbar, beglückt mein Sein erleben als Teil
der göttlichen Ordnung, eingebunden, bewahrt, gesichert. Dieses beruhigende,
tröstliche, beglückende Gefühl der Geborgenheit in einem unwirklichen
und doch seienden Raum, aus der unendlichen Welt herausgenommen,
eingefügt in ein erkennbar begrenztes, den Gesetzen der Welt entsprechendes
und schützendes Bauwerk, das sich von der Behausung so unendlich unterscheidet,
schafft Sicherheit, Zuversicht und läßt einen Hauch Gottes spüren.....

.....Selbst heute könnte man eine gotische Kathedrale mit gleichem Material
nicht wesentlich besser bauen, d. h. nach unseren Sicherheitsvorschriften
nicht dünner, im Bauvorgang nicht rationeller, in der Konstruktion nicht einfacher.
(Jürgen Segger 1969).....

Form und Inhalt bilden in der Gotik eine ausgewogene Einheit. Letztlich ist die
gotische Kathedralarchitektur Abbild der göttlichen Wahrheit: Gleichgewicht,
harmonische Proportionen, Schwerelosigkeit, Licht, geleitet von dem Streben
nach Erkenntnis, nach Höchstleistung bis an die Grenze (Einsturz von Beauvais),
um das Ziel zu erreichen."



aus dem Buch "Was ist Gotik?" von Prof. Dr.-Ing. Dr. phil. Günther Binding;
Primus Verlag 2000; ISBN 3-89678-160-X;

mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des Verfassers!










Die drei Bauwerke mit den wundervollsten Fassaden der Welt -
"Konstruktion ohne Statik!"



Der unübertroffene Glanz des Mittelalters!




..... nicht das Gold und die Kosten bewundere, sondern die Leistung dieses Werkes! Edel erstrahlt das Werk, doch das Werk, das edel erstrahlt, soll die Herzen erhellen, so daß sie durch wahre Lichter zu dem wahren Licht gelangen, wo Christus die wahre Tür ist .....

(aus der ursprünglichen Inschrift des Abtes Suger auf den Bronzetüren von Saint-Denis)


.....Wehe denen, die Kirchen zerstören, ihre Weihe durch blutigen Mord oder Unzucht entehren und keinen geweihten Stein für das Opfer haben und die den Zehnten oder Geräte des Gotteshauses rauben, o weh diesen Unglücklichen!
.....Wo immer nämlich ein geheiligter Ort ist, dort soll der Leib meines Sohnes geopfert werden, und ich will, daß sich dort ein meinem Namen geweihter Stein befindet,.....auch wenn es dort aus irgendeinem Grunde nicht möglich sein sollte, ein Gotteshaus zu errichten .....

kleiner Ausschnitt aus Meditation: "Des Menschen Tat, die zu Gott strebt, wird strahlen am Himmel..."

(aus "Scivias", d. h. Gott an Hildegard von Bingen)








kurze Pause








Nach solchen Worten ist es nicht gerade einfach, noch "was Gscheit´s" zu schreiben!
Aber folgendes soll noch zur Erläuterung meiner Auswahl dargelegt werden:

Zuerst in aller Kürze einige Bauwerke, die es nicht in diese Auswahl schaffen:
1) Kathedrale von Amiens: Grandiose Erhabenheit innen (Innenhöhe 42m), aber nicht so sagenhaft sulpturenhaft und auch nicht so groß bzw. die Türme nicht so hoch wie Reims

2) Mailänder Dom: Wunderbare Außenfassade, aber im Innern fehlt die edle Erhabenheit der u. g. Werke; außerdem kein vergleichbarer Turm; rel. später Baubeginn (1386), Fertigstellung erst im 19. Jhdt.

3) Freiburger Münster: Sein "Sahnestück", der schönste Turm der Welt, soll an anderer Stelle eines von 2 ausgewählten Werken bilden

4) Ulmer Münster: Im Innern fehlt das Wichtigste und auch die Ausstattung fehlt bzw. ist verfehlt (z. B. eine Statue Gustav Adolfs hat in einer Kirche nichts verloren); Fertigstellung erst im 19. Jhdt.; Außenfassade einfacher wie bei den u. g. Werken

5) Kathedrale von Chartres: Innen fantastisch, aber außen einfacher (in diesem Zusammenhang hier muss man es so platt sagen) als die Auswahlwerke

6) Petersdom in Rom: Vom Inneren absolut dabei, die Außenfassaden aber zu einfach; keine besonderen Fenster (Glastechnik)/kein besonderes Geläute! Wurde erst ca. 200-300 Jahre später gebaut; Ähnliches gilt grob für den Florenzer Dom

7) Die Kathedrale von Beauvais übertrat die statischen Grenzen: Der Turm aus dem Mittelalter mit 154m (!) über der Vierung (!) stürzte ein, Teileinsturz des höchsten gotischen Langhauses mit 48m innerer Höhe (damals wieder ausgebessert); sonst etwas zu "einfache" Hauptfassade; wäre ansonsten ein "Kandidat"!

8) Der Regensburger Dom wurde erst im 19. Jhdt. fertiggestellt, ist etwas kleiner und auch insgesamt weniger aufwendig als die Auswahl hier

Auch in Spanien oder in England oder sonstwo findet man nichts Gleichwertiges!

Aus diesen Bemerkungen sieht man schon einige der Kriterien, die zu der vorliegenden Auswahl führten (Reihenfolge nicht wertend):
1) Das Äußere und das Innere - insbesondere auch der innere Raumeindruck - soll etwas Erhabenes und Erhebendes aufweisen; dabei ist beides als Fassade für das Wichtigste, den Altar, zu verstehen: Das Innere wird zur Fassadenansicht!

2) Die Fassadengestaltung soll überreich, aufwendig, geordnet und die Skulpturen erkennbar von wahrer Künstlerhand geschaffen sein, also nicht nur rel. triviale Ornamente, Konturen oder primitive Figuren/Figürchen

3) Es soll kein Blendwerk - wie z. B. durch besonders teure Materialien - fehlende Kunstfertigkeit und fehlende bauliche (statische) Leistungen ersetzen

4) Die Höhe des Bauwerkes außen sowie primär die Höhe und sekundär auch die Größe des Raumes innen soll mit den zeitgemäßen technischen Möglichkeiten (Geräte bzw. Werkzeuge, Baustoffe, Berechnungsmöglichkeiten usw.) der jeweiligen Erstellungszeiten praktisch unmöglich erscheinen

5) Die Bauzeit darf sehr lange sein, auch mit Unterbrechungen (Prüfung der Nachhaltigkeit und Ausdauer)

6) Es sollen mehrere techn. Disziplinen, die zur Ausstrahlung des höheren Gebäudeinnern beitragen und nicht zu irgendeiner unterhaltenden Disziplin gemacht wurden, dargestellt werden - nicht nur der Gebäudebau, auch Fenster (Glasverarbeitung, Durchlichtausstrahlung), Glocken (akustische Ausstrahlung des Bauwerkes), weitere Gegenstände (Schreine, Teppiche .....)

7) Bauwerkerstellung möglichst vor langer Zeit erzieht zur Achtung vor der Leistung der menschlichen Vorfahren und mindert heilsam die jeweilige zeitaktuelle Überheblichkeit

8) Herausragende Kombination von Geldmitteleinsatz v. a. des Volkes, verbunden mit wahrer, vielfältiger und - für den jeweiligen Zeitraum - neuartiger Kunst (Künstlereinsatz!) und maximalen zeitgemäßen techn. Möglichkeiten


Ein heutiges Bauwerk würde auch unter hemmungslosem Geldeinsatz irgendeines Milliardärs nie die vorgenannten Kriterien erfüllen (von einer verfehlten Bestimmung einer solchen Bauleistung mal ganz abgesehen!); und dies schon gar nicht in solcher Anzahl, Verbreitung und Baudauer!

Die gotischen Fenster sind wichtig: Durchlichtdarstellungen sind in der optischen Qualität besser als Auflichtdarstellungen; vergleichen Sie hierzu z. B. Dias mit Papierbilder, Durchlichtprojektionen (Rückprojektionen) mit Auflichtprojektionen oder Durchlichthologramme mit Auflichthologrammen. Zu gotischen Glasfenstern gibt es in keinem andern Kulturkreis und zu keiner anderen Zeit etwas Vergleichbares.
Siehe auch Die Sainte-Chapelle



Die drei Bauwerke und ihr offensichtlicher Charakter



Reims: Marienkrönung;
Ausschnitt aus dem Wimperg über dem Hauptportal der Westfassade in ca. 26m Höhe;
Figuren ca. 3m hoch




Übersichtskarte:
Mitteleuropa




Hintergrundgrafik:
Idealkathedrale, Rekonstruktion des geplanten Gesamtbaus (von Reims) nach Viollet-le-Duc, so wie er hätte sein sollen;
(aus dem o. g. Buch von Prof. Dr. Dr. Binding)

Mit der Bitte um Verständnis wegen rel. langer Ladezeiten mit analogem Modem!










zur größeren Ehre Gottes!












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